Interview
Wenn Wände sprechen
Im Gespräch mit Ilit Azoulay über den Umgang mit Lücken innerhalb historischer Aufzeichnungen
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Liebe Ilit, Anlass unseres heutigen Gesprächs ist deine jüngste Arbeit „Digital Amnesia or Constructed Memory“– eine ortsspezifische Fotomontage, die du in den letzten drei Jahren im Rahmen der Sanierungs- und Erweiterungsmaßnahme des Maximiliansgymnasiums in München-Schwabing entwickelt hast. Worin lag dein ursprüngliches Interesse bei der Entwicklung eines Kunstwerks für ein denkmalgeschütztes Gebäude im Jugendstil (erbaut 1911–1912), dessen Mauern etliche Lehren des Lebens erfahren haben?
IA
Mein Interesse, eine Arbeit für das Maximiliansgymnasium zu entwerfen, rührte von der ereignisreichen Geschichte der Schule her. Ich war von der Idee angetan, das Wesen eines Ortes einzufangen, der im Laufe der Jahre Zeuge unzähliger persönlicher und historischer Ereignisse geworden ist. Die Herausforderung bestand darin, die komplexen Ebenen von Erinnerung und Geschichte innerhalb dieser Schulmauern zu separieren und einen Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart herzustellen.
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Aus welchem Blickwinkel hast du dich während deiner ersten Besuche in München der Geschichte der Schule genähert?
IA
Bei meinen ersten Besuchen in der Schule – damals hatten die Sanierungsarbeiten bereits begonnen – fing ich damit an, die Wände des Gebäudes mit einem Makro-Objektiv zu fotografieren. Die Farbe war von den Wänden entfernt worden, so dass ihre kahlen Oberflächen zum Vorschein kamen. Dies gab mir die Gelegenheit, die freigelegten Wände Zentimeter für Zentimeter zu scannen und dem Gebäude das zu enthüllen oder an die Oberfläche zu befördern, was bisher verborgen blieb. Ich habe den Prozess der Gebäudesanierung eng begleitet sowie gescannte Oberflächen der architektonischen Elemente gesammelt, um daraus ein Archiv aus Flächen und Räumen zu formen. Jeder Abschnitt des Kunstwerks besteht aus Dutzenden von Makroaufnahmen, die mittels Photoshop zusammengefügt wurden. Diese Phase der visuellen Datenerfassung dauerte so lange wie die Sanierung selbst.
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In deiner Praxis nutzt du häufig den konstruierten Raum als Rohmaterial und fängst dessen Eigenschaften mittels eines Makro-Objektivs ein. Infolgedessen entsteht daraus ein umfangreicher Fundus von Tausenden von Bildern. Dein fotografischer Ansatz zieht beinahe Parallelen zu der umfangreichen Dokumentation, die für die archäologische Feldarbeit charakteristisch ist, deren Ziel es ist, fehlende Informationen durch ein immer tieferes Graben zutage zu bringen. Welche Art verlorener Erzählungen aus der Vergangenheit der Schule sind durch deine Untersuchungen vor Ort schließlich wieder aufgetaucht? Und woher wusstest du, wo du nach ihnen graben musstest?
IA
Parallel zur visuellen Datenphase fasste unser Projektteam im Studio die historischen Ereignisse der letzten 175 Jahre in der Region zusammen, um die Kontexte, in denen diese Schule existierte, besser verstehen zu können. Zur selben Zeit haben wir fünfzig ehemalige Absolvent:innen der Schule befragt, um tiefere Einblicke zu verschiedenen Zeitphasen zu erhalten. Der Älteste war 97 Jahre alt, die Jüngste war in ihren Dreißigern. Eine Gruppe von zwölf derzeitigen Schüler:innen haben wir in Interviewtechniken geschult. Zusammen mit einer Dramaturgin haben wir ihnen gezeigt, wie ein „Safe Space“ für Interviews entstehen kann, um die Teilnehmenden zu ermutigen, offener zu sprechen. Sämtliche Interviews wurden mittels einer unterzeichneten Vertraulichkeitsvereinbarung anonym durchgeführt. Gemeinsam mit den geschulten Schüler:innen und ihrer Dramaturgin haben wir die Interviews an zwei Wochenenden in den Klassenräumen der Schule durchgeführt und alle Gespräche anschließend transkribiert.
So erhielten wir zum Ende zwei Arten von Quellen: die visuellen Daten, die die Sanierung des Gebäudes dokumentieren sowie die unbearbeiteten Aussagen unserer Interviewpartner:innen. Diese zwei unterschiedlichen Datensätze bilden das Fundament, auf dem dieses Projekt aufgebaut ist. Nachdem ich diese beiden Datensätze zusammengetragen hatte, ergab sich daraus eine solide Grundlage, um mit der endgültigen Ausarbeitung des Werks zu beginnen. Mit diesem Werk sollten die Geschichten, die Echos der Wände, die Zeugnisse und die Erkenntnisse, die während des Prozesses gewonnen wurden, zu einem zusammenhängenden Ganzen verwoben werden.
Es ging mir darum, die traditionellen, häufig singulären historischen
Erzählungen herauszufordern.
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War es deine Intention mit diesem Ansatz ein sogenanntes „Gegenarchiv“(1) zu entwickeln?
IA
Ja, die Idee, ein Gegenarchiv zu erstellen, war für dieses Projekt von zentraler Bedeutung. Es ging mir darum, die traditionellen, häufig singulären historischen Erzählungen herauszufordern, indem vielfältige Perspektiven und Stimmen einbezogen wurden, insbesondere derjenigen, die im allgemeinen geschichtlichen Diskurs marginalisiert oder vernachlässigt wurden.
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Durch den Einbezug von Interviews mit Alumni aus den letzten sechs Jahrzehnten, entstand mit „Digital Amnesia or Constructed Memory“ in gewisser Hinsicht auch ein vielstimmiges Porträt des Gymnasiums. Dennoch hängt die eigene Erinnerung an die Erfahrungen, die man als Jugendliche:r in dieser Zeit gemacht hat, auch stark von den eigenen Überzeugungen und nicht zuletzt auch von dem System ab, in dem man aufgewachsen ist. Bist du vor diesem Hintergrund der Ansicht, dass diese Umstände einen Einfluss auf die Dialoge mit den Absolvent:innen hatten?
IA
Ich hatte gehofft, eine vielfältige Bandbreite an Stimmen einfangen zu können – etwas, das durch die unterschiedlichen Herkünfte und Ären der Alumni, ihre persönlichen Überzeugungen und das sozio-politische Klima, das sie erlebt haben, geprägt ist. Im Idealfall hätte dies ein Spektrum an Perspektiven geboten. Die Rückmeldungen der meisten Befragten waren jedoch überraschend einheitlich und lobten die Schule durchweg über verschiedene Zeiträume hinweg, einschließlich der Kriegsjahre, der 1960er-Jahre und darüber hinaus. Kritik gab es auffallend wenig. Die uns erzählten Geschichten priesen die Schule beharrlich und in Anbetracht des Aufwands und der Ressourcen, die wir investiert hatten, war die daraus resultierende fehlende Vielfalt der Antworten unerwartet. Es war eine Wand ohne Riss, ein unisono Lobgesang.
Doch auch ein Fehlen an Information kann aufschlussreich sein. Von den fünfzig Befragten waren drei dazu bereit, ein anderes Narrativ zu teilen, das nun Einblicke in die Unvollkommenheit dieses scheinbar makellosen Vermächtnisses bietet. Kein System bleibt über mehr als 170 Jahre lang perfekt; Geschichte wird schließlich aus vielfältigen Erfahrungen zusammengesetzt. Diese Einblicke zeigen, wie wichtig es für die Absolvent: innen war, ihre idealisierte, fast nationalistische/n Geschichte/n aufrechtzuhalten und die Unantastbarkeit ihres kollektiven Päans zu bewahren.
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Neben der Panoramafotomontage umfasst die Installation auch zeitgenössische Interpretationen traditioneller bayerischer Volkslieder, die die Besucher:innen durch das Scannen des reliefartigen QR-Codes auf der linken Seite des Wandbildes aufrufen können. Eines der ersten Lieder, die ich hörte, war „Die Gedanken sind frei“, eine deutsche Hymne, die sich seit ihrer Entstehung im 13. Jahrhundert zu einem universellen Ausdruck des Widerstands gegen politische Unterdrückung entwickelt hat. Was genau hat dich dazu bewogen, die Idee der „Gedankenfreiheit“
in das Werk zu integrieren?
IA
Das Lied „Die Gedanken sind frei“ verkörpert den Widerstand und die Widerstandsfähigkeit des menschlichen Geistes, das freie Denken bei Unterdrückung aufrechtzuerhalten. Die Wahl dieser Hymne wurde durch eine spürbare Angst vor der freien Äußerung eigener Gedanken beeinflusst, die wir während des Interviews wahrnahmen. Auch die Geschichte eine:r der drei mitteilsamen Absolvent:innen war ein weiterer Grund für diese Wahl: Er hatte uns offenbart, dass er in den 1960er-Jahren ein Aktivist gewesen sei und an Demonstrationen teilgenommen habe. Als die Schule jedoch davon erfuhr, untersagte sie den Schüler:innen die Teilnahme an weiteren Demonstrationen. Diese Aktion steht im starken Gegensatz zu der Botschaft von „Die Gedanken sind frei“, was ihre Aufnahme in das Werk besonders ergreifend und relevant macht.
Von klein auf habe ich eine tiefe Verbindung zu Wänden gespürt, als wären sie Tore,
die verborgene Schichten offenbaren.
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Architektonisch gesehen wurden Denkmäler im städtischen öffentlichen Raum ursprünglich errichtet, um koloniale Macht zu demonstrieren, oftmals gekennzeichnet durch Darstellungen von Tierwesen aus ehemaligen Kolonien. Während deiner künstlerischen Forschung hast du dich auch mit repräsentativen Objekten befasst, wie zum Beispiel einer Löwenskulptur, die wohl, wie ich annehme, die Werte der Schule symbolisiert. Auf der anderen Seite beinhaltet die künstlerische Komposition auch auf den Kopf gestellte Baustellenmaschinen und Säulengänge. Wie in etwa sieht dein Auswahlprozess aus, wenn du eine visuelle Sprache für ein neues Kunstwerk entwickelst?
IA
Wenn ich die Bildsprache für ein neues Kunstwerk konzipiere, wird der Auswahlprozess stark von den Geschichten und Elementen beeinflusst, die in die Umgebung eingebettet sind, mit der ich mich beschäftige. Beispielsweise symbolisiert die Löwenskulptur im Schulkontext nicht nur die Werte der Institution, sondern erinnert auch an die traditionelle Rolle von Denkmälern als Träger von Macht und Vermächtnis. Generell wähle ich in meiner Praxis Objekte aus, die die historischen und kulturellen Schichten eines Raums verkörpern und mir erlauben, ihre sich entfaltenden Bedeutungen zu erforschen und zu hinterfragen. Mittels Integration dieser verschiedenen Elemente, möchte ich ein visuelles Narrativ schaffen, das die Betrachtenden dazu einlädt, über die Vielschichtigkeit von Erinnerung, Identität und Transformation innerhalb architektonischer Räume nachzudenken.
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Die meisten deiner Projekte verstehen sich als eine unmittelbare Reaktion auf einen architektonischen Raum, der sich in einem Wandel befindet, beispielsweise aufgrund von Sanierungs- oder Instandhaltungsmaßnahmen. Wie kamst du ursprünglich dazu, mit bereits existierenden Umgebungen zu arbeiten?
IA
Mein Interesse an der Arbeit mit ebendiesen Umgebungen entspringt meiner lebenslangen Faszination für Geschichten, die in architektonische Räume eingebettet sind. Von klein auf habe ich eine tiefe Verbindung zu Wänden gespürt, als wären sie Tore, die verborgene Schichten offenbaren. Diese Verbindung ist nicht unmittelbar; es erfordert große Aufmerksamkeit und Geduld, um sie freizulegen. Ich schätze den Prozess und die Qualitäten zutiefst, die durch Aufmerksamkeit und die Geduld entstehen. Diese Aspekte sind notwendig, um jegliche Formen verborgener oder stummer Daten offenzulegen. Wände sind dynamisch, entwickeln sich ständig weiter und sind reich an Erinnerungen und Bedeutungen. Meine Praxis zielt darauf ab, diese Schichten zu untersuchen und letztlich das komplexe Wechselspiel zwischen Raum, Erinnerung und Identität zu enthüllen.
1) Lange Zeit galten konventionelle Archive als Quellen objektiver Informationen. Sie verstehen sich jedoch auch als Konfliktzonen, da durch ihre Inhalte definiert wird, was als erinnerungswürdig gilt. Diese Entwicklung läutete den „Archival Turn“ ein, der dazu führte, kulturelle Speicher als Beweismittel für Ausgrenzungen zu betrachten. Folglich begreift das Konzept des „Gegenarchivs“ das Archiv als einen Raum für kritische, künstlerische Diskurse. Durch verschiedene Methoden – reaktivierender oder spiritueller Art – trägt der künstlerische Prozess des „Gegenarchivierens“ nicht nur zur (Re-)Konstruktion ausgelöschter oder unterdrückter Spuren der Geschichte bei, sondern fördert auch die Auffassung einer archivarischen Reparatur, in welchem das Konzept eines linearen Zeitverlaufs erweitert wird. Die Idee des Archivs als statische Sammlung objektiver Wissensquellen wird damit seither von vielen Künstler:innen infrage gestellt.