Digital Amnesia or Constructed Memory
Ilit Azoulay
2023
auf Anfrage zugänglich
Maximiliansgymnasium, Karl-Theodor-Straße 9, 80803 München
Panoramafotomontage von rund 3000 mit einem Makroobjektiv aufgenommenen Fotos, Projektwebsite mit zusätzlichen Text- und Soundelementen, Steinrahmen, 168 x 649,5 x 4 cm.
Architektur: BPA Braun Architekten Partnerschaft, München & Christoph Maas Architekturbüro, München
Landschaftsarchitektur: Realgrün Landschaftsarchitektur, München
Fotos: Florian Holzherr
Text: Mareike Schwarz
Es zählt zu den Widersprüchlichkeiten des digitalen Lebens, dass das Internet einerseits nichts vergisst und die Benutzenden andererseits zusehends zum Vergessen bringt. Digitale Amnesie heißt dieses Phänomen, das titelgebend für das öffentliche Kunstwerk von Ilit Azoulay im Münchner Maximiliansgymnasium ist. Mit „Digital Amnesia and Constructed Memory“ schuf die Künstlerin eine in einen Steinrahmen eingefasste Fotomontage, mit der die Konstruiertheit von Geschichte und Geschichten buchstäblich in den Raum gestellt wird.
Die Künstlerin wurde eingeladen, anlässlich der Generalsanierung der Schule ein öffentliches Kunstwerk zu schaffen. Dadurch bot sich die Chance, das Gebäude bis auf seine Grundpfeiler hin zu betrachten; was in seinem Inneren angehäuft, aber womöglich auch versteckt oder verschwiegen wurde. Über drei Jahre fotografierte Ilit Azoulay daher das Gebäude im Umbau samt darin enthaltener Objekte mit einem Makroobjektiv. Daraufhin fügte sie die unzähligen Einzelaufnahmen zu einer monumentalen Panoramafotografie zusammen. In diesem konstruierten Raumgefüge sind Architekturen wie eine Treppe im Rohbau, repräsentative Objekte wie ein steinerner Löwe oder Alltagsdinge wie ein Müllsack nebeneinander dargestellt. Den einzelnen Bildelementen sind Soundstücke zugeordnet, die über einen reliefartigen QR-Code an der linken Seite des Wandbildes mittels einer für das Kunstwerk entwickelten Projektwebseite erfahrbar sind.
Bei Auswahl eines bestimmten Objekts auf der dazugehörigen Webseite ertönen verschiedene Gedichte gefolgt von Ausschnitten bekannter bayrischer Volkshymnen. Mal sind sie dem „Münchner Stadterl“ gewidmet, mal des Himmels „Weiß und Blau“. Die Gedichte wurden gemeinsam mit der Autorin Abigail Schneider verfasst und beziehen sich auf Interviews mit Alumni des Gymnasiums über ihre Schulzeit, die von zehn aktuellen Schüler:innen unter Anleitung von Ariana Berndl geführt wurden. Alle vorlesenden, singenden oder summenden Stimmen sind computergeneriert. Ihr technischer Klang wirkt abgehackt, verfremdet und distanziert.
Darin spiegelt sich die Skepsis an dem einhelligen Lob des Maximiliansgymnasiums in den Gesprächen mit der ehemaligen Schülerschaft. Schließlich sind Erfahrungen des Erwachsenwerdens, noch dazu während politischer Umbrüche, stets auch von Selbstzweifeln, Freiheitsdrang und Ausgrenzungen geprägt. Bildet die Einigung auf eine Geschichte von Schule, Land und Staat nicht nur eine Fassade? Und welche in Vergessenheit geratene Erinnerungen verbergen sich dahinter?
Ilit Azoulay geht es um die Bruchstücke und Einzelschicksale abseits der zurechtgemachten Fassade. Das Nebeneinander der unterschiedlichen Bild- und Klang-Elemente des Panoramas im Steinrahmen zeigt, dass überlieferte Geschichte in andauernden Umbau und eben nicht in Stein gemeißelt ist. Auf interaktive Art verbindet sie die anspruchsvollen Debatten der Memory Studies mit der digitalen Wirklichkeit einer jungen Schulgeneration.
Damit reiht sich das Kunstwerk in eine Tradition engagierter Fotomontagen ein, die von der Dada-Künstlerin Hannah Höch mit ihrer beißenden Kritik am Staatsversagen am Vorabend des Zweiten Weltkriegs begründet wurde. So ist das künstlerische Medium selbst bereits ein Ausdrucksmittel für politischen Widerspruch. „Digital Amnesia or Constructed Memory“ widerspricht einer Gedächtnispolitik, die weniger erklärt als verklärt. In Zeiten digitaler Informationskämpfe spricht es sich für ein kritisches Bewusstsein für Geschichtsvermittlung aus, welchen Erinnerungen Raum gegeben wird und welchen nicht.
Kontext
Der denkmalgeschützte Gebäudekomplex des Maximilians- und des Oskar-von-Miller-Gymnasiums im Zentrum Schwabings gelegen, ist im Zuge der Schulbauoffensive durch das Baureferat grundlegend saniert und erweitert worden. Neben einer umfassenden Instandsetzung des Bauwerks und einer kompletten Erneuerung der Technik, wurden die beiden Schulen durch einen Fachlehrsaalbau an der nördlichen Hofseite und durch zwei unterirdische Turnhallen erweitert. Die Künstlerin Ilit Azoulay wurde für das Maximiliansgymnasium aus einer Vorschlagsliste der Münchner Kunstkommission ausgewählt und beauftragt, ein Kunst-am-Bau-Projekt zu entwickeln.